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«Was die Welt zusammenhält»
Lea Catrina

Ausgabe 1

Silvio hörte viele Geschichten, sofern er zuhörte, denn das Gasthaus war gut besucht. Sein Grossvater hatte recht behalten, als er damals sein ganzes Vieh und all das Land, das er noch besessen hatte, verkaufte, um hier das «Pöschtli» zu bauen. Dann war er gestorben und Silvios Vater hatte den Betrieb übernommen. Und nun, da Silvio endlich auch alt genug war, und eigentlich auch schon vorher, arbeitete er mit. Jedenfalls hörte Silvio Geschichten. Manche davon verstand er nicht, allein schon deswegen, weil er der jeweiligen Sprache nicht mächtig war. Sein Italienisch war schlecht. «A Schand», wie sein Vater fand. Und manche Geschichten verstand er ganz einfach nicht, weil die Leute von einer Welt erzählten, die ihm gänzlich fremd war. So weit weg vom Misten, Grube leeren, Holz hacken und Pferde füttern und striegeln, dass ihm manchmal schwindlig wurde. So weit weg von Silvios Welt, dass er sich gar in seinen Träumen noch am anderen Ende fühlte.

 

Aber heute, heute ist etwas Besonderes passiert. Ein Mann ist durch die Tür hereingekommen, begleitet von drei weiteren Männern, und es war von Anfang an klar, dass auch Silvio bald eine Geschichte zu erzählen haben würde. Der Mann, dem die anderen drei zu folgen scheinen und der nun da drüben am Kopfende des langen Tisches sitzt, der Mann, der einen Finger in den Wein tunkt, ja, dieser Mann ist blind. Ganz sicher. Silvio hat noch nie einen Blinden getroffen, aber jetzt, da einer vor ihm sitzt, ist er erleichtert. Denn der Mann ist Maler.

Ausgabe 2

Silvio hat kein Geld. Keine Gehilfen. Keine Schuhe mit glänzenden Schnallen. Er ist der Gehilfe. Und als solcher darf er die Gäste nicht einfach ansprechen. Der blinde Maler und seine Begleiter sind auf der Durchreise. Sie werden nicht lange hier sein und Silvio will unbedingt mit dem Mann sprechen. Er will so unbedingt mit dem Mann sprechen, dass er seine Arbeit noch schneller verrichtet als sonst, damit er die Gelegenheit nicht verpasst. Seine Chance auf seine eigene Geschichte, die nur er erzählen kann.

​

Der Mann spricht Deutsch und hat einen langen Namen. Sein Weinglas ist leer und seine Begleiter sind abgelenkt. Sie beobachten Silvios Schwester, Mia. Und die ist ebenfalls abgelenkt, denn die Schublade klemmt wieder. So bemerkt keiner, wie Silvio sich dem Tisch nähert und plötzlich neben dem Maler steht.

«Was kann ich für Sie tun?», fragt der Mann, noch bevor Silvio seinen Mund öffnen kann.

«Silvio!» zischt Mia ihn quer durch den Raum an. Auch zwei der drei Begleiter haben ihre strengen Blicke nun auf ihn gerichtet.

«Schon gut», spricht der Blinde weiter. «Lasst ihn seine Frage stellen.» Silvio zögert. «Sie wollten mir doch eine Frage stellen, gehe ich richtig in der Annahme?»

Alle starren sie Silvio an. Er räuspert sich.

«Ich, ich wollte Ihnen nur Wein nachschenken», sagt er schliesslich, Schweiss auf der Stirn und seine Hände so zittrig, dass ein Tropfen Rotwein auf den weissen Strumpf des Mannes fällt.

Ausgabe 3

Silvio hält die Luft an. Er sieht den roten Fleck. Mia sieht ihn nicht. Und auch die drei Begleiter haben nichts bemerkt. Der Blinde fährt mit der rechten Hand seinen Schenkel entlang und findet die kleine, feuchte Stelle. Er schmunzelt. Nimmt die Hand wieder weg und greift nach dem Weinglas.

«Danke», sagt er. «Überlässt ihr uns bitte den Raum», fügt er hinzu.

«Gewiss», sagt einer der Begleiter.

Mia hat sich nicht mehr bewegt, steht da, die Schublade hinter ihr immer noch zu.

«Macht es Ihnen etwas aus?», fragt er nun auch in Mias Richtung.

«Natürlich nicht», antwortet diese schnell und wirft Silvio einen strafenden Blick zu, während sie an ihm vorbeihuscht.

«Setzen Sie sich», sagt der blinde Maler. Silvio zögert. Dann stellt er den Wein ab und setzt sich auf einen Stuhl, lässt einen Stuhl zwischen sich und dem Fremden frei. «Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Pferde», sagt dieser, «der Geruch hängt sich in die Kleidung wie kein Zweiter.»

«Entschuldigen Sie», sagt Silvio.

«Sie arbeiten, das ist ehrenvoll. Arbeit darf man riechen. Meine Farben riechen ebenfalls. Blau ist mir am liebsten.»

Ausgabe 4

«Farben riechen unterschiedlich?», fragt Silvio vorsichtig.

«Aber natürlich», sagt der Blinde. «Jede hat ihren ganz eigenen Charakter, wie Klänge in der Musik. Einen eigenen Ton, eine eigene Note.»

«Ich habe keine Farben», sagt Silvio. «Mein Vater spielt in der Dorfmusik.»

«Jeder braucht Farben», sagt der Mann. «Wie sollte man sonst malen?»

Silvio nickt. Schaut auf seine Hände, Arbeiterhände, denkt er. Dann betrachtet er die Hände des Malers. Malerhände.

«Ich kann nicht hören, was Sie tun, junger Mann.»

«Verzeihen Sie, der Herr. Ich habe genickt», sagt Silvio. «Ich kann nicht malen.»

Der blinde Maler räuspert sich. Einer seiner Begleiter eilt um die Ecke und neigt seinen Kopf hinunter, wohl um besser hören zu können, was der Maler ihm zuflüstert. Silvio deutet das als Zeichen, sich zu erheben und den Maler allein zu lassen. Doch kaum steht er, durchfährt ihn ein Schock. Der Maler hat Silvios linkes Handgelenkt fest im Griff.

«Wohin so eilig?», fragt er. Mit heissem Kopf setzt Silvio sich wieder hin. Jetzt hört er die Tür, seinen Vater. «Ich werde Ihnen etwas zeigen, junger Mann», sagt der Maler.

Ausgabe 5

Silvios Vater begrüsst den Gast, merkt erst auf den zweiten Blick, mit wem er es zu tun hat. Und er merkt ebenfalls erst auf den zweiten Blick, dass Silvio danebensteht. «Was machsch du denn da?», fragt er forsch. «D Ross fuatterend sich nit selber.»

Silvio hat die Pferde bereits gefüttert. Trotzdem weiss er, dass sein Vater ihn jetzt aufhalten wird, mit dem blinden Maler mitzugehen. Dass er verhindern wird, dass Silvio an den Farben riechen darf. Dass er endlich seine eigene Geschichte bekommt, die er dann erzählen kann. Eine Geschichte, die die Leute wieder und wieder hören wollen würden. Wieder und wieder.

«Belästigt er Sie?», fragt Silvios Vater.

Silvio hält die Luft an. Er macht einen Schritt zurück.  

«Oh, ganz im Gegenteil», sagt der Maler. «Ich wollte ihrem Sohn soeben etwas zeigen.»

Silvios Vater zögert, scheint verwirrt.

«Etwas zeigen?»

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht?»

 

Als der Maler das Zimmer betritt, nimmt ihm einer seiner Begleiter den Mantel ab. Silvio trägt keinen Mantel, aber die Farben kann er bereits an der Türschwelle riechen.

Ausgabe 6

Von hier aus kann man die Strasse am besten sehen, leicht von oben, fast bis zur nächsten Kurve. Silvio ist lange nicht mehr in diesem Zimmer gewesen. Das letzte Mal, als er einer Dame mit dem Gepäck helfen musste. Ihm fiel einer der Koffer runter. Seither kümmern sich andere um das Gepäck. Das ist Silvio ganz recht.

Der Maler tastet nach einem der Bilder, entfernt den Stoff, der darübergelegt ist. Dann wartet er auf Silvios Reaktion. Das Bild ist wild und bunt, es sieht aus wie ein Sturm aus Farben.

«So etwas habe ich noch nie gesehen», sagt Silvio. Der Maler lächelt. Jetzt sieht Silvio auch das Blau, von dem der Maler gesprochen hat. Er meint es sogar riechen zu können. «Verzeihen Sie, der Herr, wenn ich frage», Silvio nimmt all seinen Mut zusammen, «aber, wieso malen Sie? Wenn Sie die Bilder nicht…»

«Sehen können?», sagt der Mann. Er lächelt wieder. «Schliessen Sie die Augen.»

Der Begleiter des Malers steht neben Silvio, also tut er, was der Maler sagt und schliesst die Augen. «Legen Sie Ihre Hände auf die Leinwand.»

«Aber meine Hände…»

«Keine falsche Scheu, es ist nur Farbe.»

Ausgabe 7

Silvios Hände liegen auf dem Bild. Langsam fährt er von einer Seite zur anderen. Er zittert, will die Augen öffnen, aber traut sich nicht. Dann atmet er ruhiger. Er spürt die Unebenheiten unter seinen Fingern. Er folgt den Rillen, den Wölbungen, der Struktur.

«Ich male, weil es das ist, was die Welt zusammenhält», sagt der Maler. «Meine Welt.» Silvio nimmt die Hände wieder weg. Blinzelt, öffnet seine Augen. Er hört das abendliche Treiben draussen auf der Strasse und er kann nicht beschreiben, was er soeben gefühlt hat. Stattdessen betrachtet er seine Hände. Die Fingerkuppen. Die Rillen darin. «Was hält Ihre Welt zusammen?», will der Maler wissen.  

Silvio denkt nach. Aber er muss nicht lange nachdenken.

«Geschichten», sagt er. «Die Geschichten der Menschen, die hier vorbeikommen.»

 

Als der Maler und seine drei Begleiter am nächsten Tag abreisen, sieht Silvio Ihnen nach. Er weiss nicht, ob sie jemals wiederkommen werden. Aber sie haben etwas zurückgelassen. Das Blau, das Silvio in seiner Ledertasche versteckt hat. Und eine Geschichte, die ihm keiner mehr nehmen kann. Seine Geschichte.

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